Hypokrisie stellt in ihrem Spannungsverhaltnis aus Vorgegebenem und Tatsachlichem eine zutiefst ambivalente Thematik dar, die auf die grundlegenden Formen menschlicher Kommunikation einwirkt. Damit bildet sie nicht nur einen ergiebigen Betrachtungsgegenstand in literarischen Diskursen, sondern kann auch in politischen Debatten instrumentalisiert werden. Beide Dimensionen vermengen sich in der literarischen Kommentierung gesellschaftlicher Entwicklungen, wie sie sich in zahlreichen altfranzosischen Texten des 13. Jahrhunderts findet. Die Studie untersucht verschiedene Gattungen der altfranzosischen Literatur hinsichtlich der Profilierung des zu diesem Zeitpunkt noch uneindeutig umrissenen Lasters. Dazu zeichnet sie zunachst die theologische Tradition des Hypokrisiebegriffs nach und nimmt gesellschaftliche Umbruche an der Schwelle vom Hoch- zum Spatmittelalter in den Blick. Das Untersuchungskorpus umfasst mit dem Roman de Renart, dem fabliau, der gesungenen Dichtung und dem dit vier Gattungen, die sich hinsichtlich ihrer literarischen Konventionen unterscheiden. Sie lassen die vielfaltigen Facetten des Untersuchungsgegenstandes hervorscheinen, indem sie ihn in verschiedenen poetologischen und gesellschaftlichen Kontexten verhandeln.